Hochhaus der Hoffnung

Seit Kriegsbeginn flüchteten über 60'000 Menschen aus der Ukraine in die Schweiz. 164 Schutzbedürftige haben im Terresta-Hochhaus an der Austrasse in Chur ein neues Zuhausae gefunden. Drei ukrainische Familien erzählen ihre Geschichte.

Menschen
| 22.03.23
hochhaus

Über 10 Millionen Menschen haben seit Kriegsbeginn ihr Hab und Gut zurücklassen und die Ukraine verlassen. Rund 60‘000 von ihnen haben in der Schweiz Schutz gesucht und benötigen dringend geeigneten Wohnraum. Terresta hat umgehend reagiert und geholfen: Seit Anfang Mai stellt sie dem Kanton Graubünden eine Liegenschaft in Chur zur Unterbringung von Schutzbedürftigen zur Verfügung – zu einem günstigen Mietzins. Das Hochhaus an der Austrasse 12 stand zwecks einer bevorstehenden Sanierung leer. Der Beginn des Umbaus wurde aus humanitären Gründen verschoben. «Wir verstehen uns als sozialer Vermieter und wollen in dieser Flüchtlingskrise Verantwortung wahrnehmen, wo immer wir können», sagt Hans Rupp, Geschäftsführer von Terresta. «Das Hochhaus bietet den Schutzbedürftigen die Chance, zur Ruhe zu kommen und in Frieden und Würde zu wohnen».

Fast alle Wohnungen sind belegt

Am 5. Mai war es soweit: die ersten Schutzbedürftigen aus dem Transitzentrum Laax zogen in der Austrasse 12 ein. Ende August waren fast alle der insgesamt 41 Wohnungen belegt und es leben 164 Menschen hier. Die allermeisten sind Mütter mit ihren Kindern, dazu kommen einige Familienväter und Senioren. Im Haus gibt es möblierte 3.5- und 4.5-Zimmer-Wohnungen, die in der Regel von fünf bis sechs Personen bewohnt werden. Die schulpflichtigen Kinder besuchen eine Zentrumsschule des Amts für Migration und Zivilrecht (AFM), wo sie nach dem Lehrplan 21 unterrichtet werden. Viele Erwachsene belegen Deutschkurse. Betreut werden sie von Mitarbeitenden des AFM, die im Hochhaus Büros eingerichtet haben. «Das Zusammenleben funktioniert in der Regel reibungslos, die Atmosphäre ist ruhig und freundlich», sagt Daniela Merz, Ressortleiterin Individualunterkünfte.

Wie haben sich die Bewohnerinnen und Bewohner an der Austrasse 12 eingelebt? Wie sind sie in die Schweiz gekommen und wie erleben sie unser Land? Drei ukrainische Familien erzählen ihre Geschichte.

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Schwestern

Die Schwestern Maria B. (35, links) und Nataliia K. (40) flüchteten Anfang April mit ihrer Mutter Halina (68) und ihren Töchtern Vasilisa (3) und Eva (11, nicht im Bild) sowie zwei Katzen in die Schweiz. Nataliia arbeitete als Bankangestellte in der Region Donezk, Maria war Buchhalterin in Kiew. Beide sprechen ein wenig englisch. Sie gehören zu den ersten Bewohnerinnen der Austrasse und teilen sich eine 3,5-Zimmerwohnung.

«Ganz besonders geniessen wir den eigenen Balkon mit Blick auf die Berge»

«Als es daheim zu gefährlich wurde und wir flüchten mussten, war für uns klar: wir wollen in die Schweiz. Denn wir hatten gehört, dass es eines der sichersten Länder Europas sei. Mit Zügen schafften wir es bis nach Polen. Von dort brachten uns Vertreter von Hilfsorganisationen am 12. April mit Autos in die Schweiz.

Nach der Aufnahme im Bundesasylzentrum war unsere erste Station das Transitzentrum in Laax. Aber schon nach wenigen Wochen kam die gute Nachricht: Wir dürfen in eine eigene 3,5-Zimmer-Wohnung an die Austrasse. Seit Anfang Mai leben wir nun hier. Das Wohnzimmer haben wir zu einem dritten Schlafzimmer umfunktioniert, damit alle Erwachsenen ein eigenes Zimmer haben. Das war uns sehr wichtig. Der elektrische Kochherd ist für uns etwas Neues – zu Hause hatten wir nur Gas – und Wasser gab es jeweils nur einige Stunden pro Tag. Ganz besonders geniessen wir den eigenen Balkon mit Blick auf die Berge.

Einige der Hausbewohner kannten wir bereits aus Laax. Engeren Kontakt pflegen wir vor allem mit einer Familie mit Kindern im ähnlichen Alter. Unser Alltag hat eine feste Struktur. Ewa geht in die Schule, die Kleine ist noch daheim. Wir Erwachsenen versuchen, uns fit zu halten. Maria macht jeden Morgen eine Stunde Sport, bevor alle aufstehen. Wir sind so viel wie möglich draussen und machen – wenn immer es das Wetter zulässt – einen gemeinsamen Abendspaziergang. Als der öffentliche Verkehr noch gratis war, haben wir auch grössere Ausflüge unternommen. Die perfekte Organisation und die Schönheit der Schweiz sind sehr beeindruckend. Wir wollen so schnell wie möglich Deutsch lernen und eine Arbeit finden. Die Austrasse ist unser zu Hause geworden. Wir fühlen uns hier wohl – und noch viel wichtiger: wir fühlen uns sehr sicher.»

Mutter

Alona K. (36) stammt aus Browary, einer Industriestadt in der Agglomeration Kiew, wo sie als technische Spezialistin in einer Aluminiumfabrik arbeitete. Sie flüchtete im Juni mit ihren Söhnen Gleb (10 Monate) und Vladislav (13, nicht im Bild) und lebt seit dem 20. Juni an der Austrasse. Ihr Mann und ihr ältester Sohn sind im wehrpflichtigen Alter und durften die Ukraine nicht verlassen.

«Auch wenn es Landsleute sind: es sind halt doch Fremde»

«Ende Mai kam die Front wieder näher. Wir konnten die Kämpfe hören. Da entschied ich mich schweren Herzens zur Flucht mit meinen beiden jüngeren Söhnen. Die Dokumente und zwei Rücksäcke mit Kleidern, das musste genügen. An Schlaf war in den überfüllten Zügen nicht zu denken. Da der Kinderwagen kaputt ging, musste ich den kleinen Gleb tragen. Nach drei Tagen erreichten wir via Budapest endlich die Schweiz. Im Bundesasylzentrum Altstätten wurden wir dem Kanton Graubünden zugeteilt, aber schon wenige Tage später durften wir in unser neues Zuhause an der Austrasse umziehen.

Hier teilen wir uns eine 3,5-Zimmerwohnung mit einer anderen Familie. Damit wir uns im Badezimmer nicht in die Quere kommen, haben wir Nutzungszeiten vereinbart – das funktioniert bestens. Es tut gut, zur Ruhe zu kommen. Es ist hier viel weniger hektisch als im Transitzentrum und wir haben mehr Privatsphäre. Vladislav geht seit wenigen Tagen zur Schule und ich kümmere mich um Gleb. Sobald die Kinderbetreuung geregelt ist, beginne ich mit dem Deutschkurs.

Eine Cousine meines Mannes lebt in der Schweiz. Wir hatten gehofft, dass sie uns vielleicht helfen könnte. Aber sie wohnt in einem anderen Kanton und ich habe sie bisher erst einmal getroffen. Sonst kenne ich hier niemanden. Zu den Nachbarn habe ich Kontakt, aber wir reden kaum über Persönliches. Auch wenn es Landsleute sind: es sind halt doch Fremde.

Ich spreche nur ukrainisch und getraue mich noch nicht, grössere Ausflüge zu machen. Aber das wenige, das ich von Chur gesehen habe, gefällt mir. Es gibt hier viel mehr Natur als in meiner Heimatstadt. In meinen Gedanken bin ich sehr oft dort. Ich vermisse meinen Mann und meinen ältesten Sohn, mit dem ich jeden Tag über WhatsApp Kontakt habe. Er hat noch keine Kampfausbildung gemacht und ist daheim in unserer Wohnung. Sobald es dort wieder sicherer ist, kehren wir nach Hause zurück. Wenn ich kein Baby hätte, dann wäre ich nicht geflüchtet.»

Hund

Denis S. (39) und seine Frau Lidiya lebten in der zentralukrainischen Millionenstadt Dnipro. Sie arbeiteten dort als Sportlehrer und waren früher erfolgreiche Athleten. Lydia ist mehrfache ukrainische Rudermeisterin und Dennis gewann mehrere nationale Meistertitel im Karate. Sie flüchteten Anfang März, nur wenige Tage nach Kriegsausbruch, gemeinsam mit ihren zwei Söhnen Dima (3) und Makar (8) sowie Tochter Diana (13, nicht im Bild). Als Familienvater von drei minderjährigen Kindern ist Denis von der Wehrpflicht befreit und er durfte das Land verlassen. Die Familie wohnt seit dem 5. Mai an der Austrasse.

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«Die Schweiz war schon immer unser Traumland»

«Wir sind jetzt seit dreieinhalb Monaten hier und seither ist schon unheimlich viel passiert. Die beiden grösseren Kinder gehen zur Schule und sind auch neben der Schule sehr aktiv. Dinah spielt Klavier und singt in einem Chor, mit dem sie sogar schon auf Tournee war. Makar spielt Flöte und er ist sehr oft draussen auf der grossen Wiese vor dem Hochhaus, um mit den anderen Kindern zu spielen. Die meisten sind aus der Ukraine, aber immer häufiger sind auch Schweizer Kinder dabei.

Wir sind froh, dass es den Kindern so geht und dass sie die Flucht etwas vergessen können. Schon wenige Tage nach Kriegsbeginn wurde rund um Dnipro gekämpft. Es fuhren weder Züge noch Busse und so mussten wir Privatautos finden, die uns aus der Stadt und bis zur Grenze brachten. In Polen wurden wir in einem alten Schulgebäude einquartiert, wo wir uns auch um zwei Frauen mit ihren Kindern gekümmert haben. Sie waren ohne ihre Männer geflüchtet und hatten Angst alleine. Nach einigen Wochen war klar: an eine baldige Heimkehr war nicht zu denken. Da nahm ich Kontakt auf zu Karatekollegen in verschiedenen europäischen Ländern. Als wir erfuhren, dass die Schweiz noch Flüchtlinge aufnimmt, reisten wir am 8. April mit dem Zug nach Zürich. Weil es dort keinen Platz mehr gab, brachte man uns zuerst in eine Zeltstadt im Kanton Thurgau und von dort kamen wir via Altstätten und Laax nach Chur.

Der Einstieg ist geschafft. Wir haben das grosse Glück, eine eigene Wohnung ganz für uns zu haben. Und wir haben den Sport, der uns die Integration enorm erleichtert. Diana und ich trainieren im nahegelegenen Karateklub Trimmis. Ich kann hier meine Erfahrung weitergeben und war auch schon Punktrichter bei einem internationalen Turnier. Wir wurden sehr warmherzig empfangen, einige Klubkollegen haben uns sogar schon zu sich eingeladen. Die Verständigung ist noch etwas schwierig, aber mit ein paar Brocken Deutsch und Englisch und vielen Handzeichen klappt es immer.

Dank den Apps, können wir uns gut orientieren und selbständig bewegen. Wir staunen über das Trinkwasser aus der Leitung und über die frische Luft, die wir hier Einatmen können. Und dass die Schweiz politisch neutral ist, gibt uns besonders viel Sicherheit. Wir sind sehr dankbar, dass wir hier leben dürfen. Die Schweiz war schon immer unser Traumland. Durch das Unglück des Krieges wurde unser persönliches Glück wahr.»

  • Fotografie

    Maurice Haas

  • Text

    Michael Krobath